Gleich mal vorweg: „Gegenoffensive“ bedeutet nicht eine große Entscheidungsschlacht im Morgengrauen. Laien scheinen damit zu rechnen, dass ein Meer von Panzern am Horizont erscheint, wie in „Der Herr der Ringe“ Théoden von Rohan mit dem Reiterheer auf dem Hügel vor Minas Tirith auftaucht, um die Stadt aus der Belagerung durch Orks zu befreien. Aber das ist eben nicht die Realität. „Gegenoffensive“ ist nur ein Leitbegriff für die Schlagzeilen in den Medien, wohl auch deshalb, weil Journalisten in der Regel keine Ahnung vom Militär haben. Es handelt sich um strategische Pläne, deren Umsetzung Monate dauern kann. Niemand hat gesagt, dass die Show „nach drei Tagen“ gelaufen ist.
Die ukrainische Gegenoffensive läuft jetzt seit Juni 2023 und umfasst mehrere Operationen gegen die russischen Streitkräfte. Das Hauptziel der ukrainischen Streitkräfte ist es, bis zur Küste des Asowschen Meeres vorzustoßen und den Landkorridor im Südosten der Ukraine zu durchtrennen, der das russische Festland mit der besetzten Krim verbindet. Die Frontlinie spannt sich über mehr als 1.000 km. Das entspricht etwa der Länge der Autobahn A7 von Füssen über Flensburg bis nach Kolding in Dänemark. Lesen wir über Vorkommnisse in Donetsk, Luhansk, Charkiw oder auf der Krim, sind das Distanzen wie zwischen München und Hamburg oder Aachen und Görlitz. Der Durchschnittsdeutsche ohne Militärwissen kann sich das gar nicht vorstellen.
DER BISHERIGE ABLAUF
Im Vorfeld der Operation gab es in den Medien Spekulationen über den Zeitpunkt des Operationsbeginns. Zudem erwarteten viele einen schnellen Vormarsch, wie er bei der Befreiung großer Gebiete bei Charkiw und am rechten Ufer des Dnipro im Süden der Ukraine im Jahr 2022 stattgefunden hatte. Das funktioniert aber jetzt nicht, weil die Ausgangslage völlig anders ist. Es ist bekannt, dass die Russen über den Winter Verteidigungssysteme aufgebaut haben. Beispielsweise Schützengräben und Straßensperren.
Es kam jedoch nicht zu einem blitzartigen Durchbruch der russischen Verteidigungslinien, da sich die Offensivbemühungen der Ukraine hinzogen. Dies führte zu breiter Kritik an dem Vorstoß, der langsamer als von vielen erwartet ablief. Die russische Propaganda ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, griff die Berichte sofort auf und verbreitete unbestätigte Behauptungen über ukrainische Verluste an Panzern und Personal.
ERSTE PHASE
Die ukrainischen Streitkräfte begannen zunächst damit, die russischen Stellungen aufzuklären und ihre Logistik zu stören. Der erfolgte in den meisten Fällen mittels Drohnen und durch Satellitenaufklärung der westlichen Nachrichtendienste. Bei der Störung der Logistik liegt der Hauptschwerpunkt bei Angriffen auf russische Tank- und Munitionslager in Frontnähe. Denn, wie wir wissen, ohne Sprit fährt kein Panzer und ohne Munition ist jedes Geschütz nutzlos. Die Ukrainer haben die Russen also dazu gezwungen, ihre Nachschublinien auseinanderzuziehen, was bedeutet, dass ihre Einheiten viel länger auf Treibstoff und Munition warten mussten.
ZWEITE PHASE
Nach Aufklärung und Störung erfolgte das, was man als Testangriffe bzw. Störangriffe bezeichnen kann. Das bedeutet, das kleine ukrainische Verbände an bestimmten Frontabschnitten einige kleinere Angriffe durchführten, um die russischen Reaktionen darauf zu testen. War ein Abschnitt zu stark verteidigt, griff man dort nicht weiter an, sondern zog sich zurück und konzentrierte sich auf schwächere Abschnitte. Solche Testangriffe wurden von Truppen in Kompanie-, maximal jedoch in Bataillons-Stärke durchgeführt, und das zu unterschiedlichen Zeitpunkten, um die russischen Kommandeure maximal zu verwirren. Denn die Einheit im Gefecht ist erstmal gebunden und Verstärkung muss herangeführt werden. Die russischen Streitkräfte waren also gezwungen entsprechend zu reagieren und ihre Einheiten zu verlegen.
DRITTE PHASE
Nachdem man auf der russischen Seite maximale Verwirrung verursacht hatte, ging man zu den eigentlichen Gegenangriffen über. Daran beteiligt sind dann die sogenannten „schweren Einheiten“, also ab Brigadestärke. Die Hoffnung auf eine schnelle Gegenoffensive wurde auch dadurch genährt, dass westliche Partner die ukrainischen Streitkräfte ausbildeten und ihnen militärische Ausrüstung, darunter auch schwere gepanzerte Fahrzeuge (Leopard, Abrams, Challenger), zur Verfügung stellten. Die von den Partnern gelieferten Panzer übertrafen die sowjetischen Modelle in vielerlei Hinsicht, u. a. in Bezug auf Feuerkraft, Wartungs- und Nutzerfreundlichkeit sowie Überlebensfähigkeit der Besatzung. Dies zeigte sich bereits in den ersten Wochen der Offensivoperationen.
DIE UKRAINISCHEN PROBLEME
Viele Experten hatten keine allzu optimistischen Erwartungen an die ukrainische Gegenoffensive, da sie sich der Komplexität der Lage bewusst waren. Schließlich hatte das russische Militär im südlichen Teil der Ukraine, wo der Hauptschlag erwartet wurde, genügend Zeit, sich zu verschanzen und seine Einheiten aufzufüllen, da die Ukraine auf die Lieferung der erforderlichen Waffen und die Ausbildung der Truppen warten musste.
Die dichten Minenfelder sowie das ausgeklügelte Netz von Schützengräben und Sperren hinderten die Ukrainer jedoch daran, die Vorteile der westlichen Technologie voll auszuschöpfen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Anzahl der von den westlichen Partnern zur Verfügung gestellten Kampfpanzer ebenfalls eher begrenzt war, entschieden die ukrainischen Befehlshaber, dass es zu riskant sei, diese Panzer direkt an die Front zu schicken und bildete mit ihnen entsprechende „Durchbruchseinheiten“. Das heißt, sie werden erst eingesetzt, wenn sicher ist, dass ein erfolgreicher Durchbruch durch die russischen Linien erzwungen werden kann.
Daher passte das ukrainische Militär nur wenige Wochen nach Beginn der Angriffsoperationen seine Strategie an, um die eigenen Verluste zu minimieren und gleichzeitig die russischen Truppen durch Artillerie- und Langstreckenraketenangriffe weiter zu schwächen. Darüber hinaus waren sind die ukrainischen Kommandeure bei ihren Angriffen auf die russischen Linien sehr darauf bedacht das Leben der eigenen Soldaten zu schützen, im Wissen um die Überlegenheit Russlands im Bereich personeller Reserven. Das heißt, die ukrainischen Einheiten versuchen mit wenig Personal und Material maximale Wirkung gegen den Feind zu erzielen.
Ein weiterer Grund für den schleppenden Vormarsch ist die fehlende Luftüberlegenheit. Die westliche Doktrin geht vom ständigen Einsatz von Flugzeugen zur Unterstützung der Bodentruppen aus, wie es im Irak (1991) der Fall war. Das funktioniert in der Ukraine nicht. Die ukrainischen Luftstreitkräfte sind gezwungen, ihre Flugzeugflotte zu schonen und diese angesichts der begrenzten Fähigkeiten der Kampfflugzeuge aus der Sowjetära (Su-27, MiG-29, Su-24 und Su-25) nicht zu nahe an die Front herankommen zu lassen, während die russischen Luftstreitkräfte zumindest über den besetzten Gebieten relativ ungehindert operieren können. Ich möchte es noch einmal betonen: Um den ukrainischen Luftraum zu „säubern“ braucht es mehr als 30 altersschwache Sowjetvögel und 20 gebrauchte F-16, die nicht viel jünger sind.
DIE RUSSISCHEN PROBLEME
Das Vorgehen der russischen Streitkräfte kann man nach wie vor als rücksichtslos gegenüber den eigenen Soldaten beschreiben. Wobei sich die Kampfführung in den Einheiten extrem unterscheidet. Es gibt auf russischer Seite einige wenige Einheiten, die professionell kämpfen und deren Kommandeure zumindest versuchen, ein gewisses Maß an Präzision zu erzielen und Verluste zu vermeiden. Andererseits gibt es Frontabschnitte, an denen russische Kommandeure sowohl Personal als auch Material ohne mit der Wimper zu zucken verheizen. Es gibt Berichte darüber, wie rücksichtslos die Russen in einigen Gebieten sind: Eine russische Angriffsgruppe rückt vor und wird völlig vernichtet, und dann formiert sich die nächste Angriffsgruppe und rückt kurz darauf vor. Dies kann fünf bis zehn aufeinanderfolgende „Wellen“ hintereinander umfassen.
Im „Idealfall“ wird eine kämpfende Einheit, die Verluste erlitten hat und deren Soldaten erschöpft sind, von der Front abgezogen und durch eine „frische“, voll ausgerüstete Einheit mit ausgeruhten Soldaten ersetzt. Was die Russen aktuell nicht können. Weil es keine Einheiten ohne extreme Verluste mehr gibt. Die 72. OMSBr (motorisierte Schützenbrigade) z. B. wurde in der Ukraine vier Mal (!) aufgetrieben, zerlegt und wieder „neu formiert“. Das heißt, die Russen berufen Reservisten ein, geben denen einen einwöchigen „Crash-Kurs“ und schicken sie dann an die Front. Die durch anhaltende Kämpfe erschöpften Einheiten werden also nicht neu formiert, sondern einfach nur „aufgefüllt“ und die, die neu an die Front kommen sind nicht fertig ausgebildet, werden also in Gefechte gegen ukrainische Berufssoldaten mit Kampferfahrung geschickt.
Die russischen Luftstreitkräfte kämpfen inzwischen mit akuten Ersatzteilmängeln. Das Tempo der taktischen Luftoperationen hat um etwas die Hälfte nachgelassen. Vor allem die Jagdbomber Su-34, welche die Hauptlast der Luft-Boden-Einsätze tragen, kämpfen mit erhöhtem Verschleiß. Westliche Komponenten können aufgrund der Sanktionen nicht ersetzt werden. Aktuell fordert z. B. „Rosoboroneksport“ die Rückgabe von mehr als 150 Helikopter-Triebwerken, die man in den letzten Jahren an Ägypten, Brasilien und Pakistan geliefert hatte.
Die Verluste haben außerdem zu einem erheblichen Mangel an erfahrenen Piloten gefordert. Die Mobilisierung von Ausbildern aus den Flugschulen hin zu den Fliegerregimentern behindert außerdem die Fähigkeit, neue Piloten effektiv auszubilden. Das ist einer der Gründe, warum Moskwa in den Verhandlungen über Gefangenenaustausche mit der Ukraine hauptsächlich die Rückkehr altgedienter Piloten fordert.
Probleme gibt es auch im Weltall: Russland hat aktuell 160 Satelliten im Orbit. Etwa 100 davon sind Militär- oder Mehrzwecksatelliten und 19 Bild- oder Signal-Aufklärungssatelliten. Die jüngsten dieser Satelliten wurden vor 7 bzw. 9 Jahren gestartet, was bedeutet, dass sie sich dem Ende ihrer Betriebszeit nähern. Nicht, weil die Komponenten des Satelliten verschlissen sind, sondern weil der Treibstoff, der benötigt wird, um sie in verschiedene Umlaufbahnen zu bringen, um verschiedene Orte zu beobachten, bald verbraucht sein könnte.
Ein russisches Online-Militärmagazin berichtete kürzlich, es gebe nicht genügend Satelliten, um genaue Zielinformationen für Raketen wie „Tsirkon“, „Kalibr“ und „Kinzhal“ zu erhalten, weder für stationäre noch für mobile Ziele wie Schiffe. Dies macht es für die russischen Aufklärungsdienste, vor allem die dem GenShtab unterstellte GRU sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, ihre Aufklärungssatelliten zu nutzen, um Truppenkonzentrationen oder -bewegungen zu verfolgen.
Auch das russische Satellitennavigationssystem GLONASS (russisches GPS) ist betroffen. Es ist nötig. um Marschflugkörper ins Ziel zu bringen braucht mindestens 24 Satelliten, um voll funktionsfähig zu sein. Aktuell sind 23 aktiv und viele nähern sich dem Ende ihrer Betriebsdauer. 90 Prozent ihrer Komponenten sind importiert, so dass kein Ersatz produziert werden kann. Und um Ersatz in den Orbit zu bringen, fehlen die Raketen.
FAZIT UND AUSBLICK
Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass unklar ist, wie stark Russlands Reserven in der südlichen Operationszone sind. Die Hauptverteidigungskräfte sind in den Gebieten der ukrainischen Offensive zusammengezogen worden. Dies wirft die Frage auf, ob die russischen Kräfte in der Lage sein werden, die Verteidigung aufrechtzuerhalten, wenn die Ukrainer die Hauptverteidigungslinie durchbrechen.
Auch wenn der Optimismus für die ukrainische Gegenoffensive vorerst geschwunden ist, würde ihr Erfolg nicht den endgültigen Sieg bedeuten. Erstens ist das Ergebnis der Bemühungen nach wie vor unklar. Zweitens deuten Äußerungen russischer Offizieller darauf hin, dass Moskwa seine Militäraktion keineswegs einstellen wird, zumindest nicht in diesem Winter und im kommenden Frühjahr. Diese Position könnte sich jedoch ändern, wenn die russischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, die derzeit von ihnen besetzten Gebiete zu verteidigen und sich zurückzuziehen.
Ausgehend von diesen Überlegungen geben die jüngsten Geschehnisse an der Zaporishshja-Front Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Gleichzeitig ist klar, dass die Russen alles geben, um ihre Stellungen zu halten. Ein Erfolg ukrainischer Streitkräfte in diesen Gebieten wird die Umsetzung der ursprünglichen Ziele der so genannten „Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine weiter in Frage stellen.