Das Wort “Dedowshtshina” (Дедовщина), abgeleitet von Wort “Ded” (Дед = Großvater), bedeutet soviel wie “Großväterherrschaft” oder auch “Herrschaft der Älteren”. Es handelt sich um ein inoffizielles hierarchisches System der russischen Streitkräfte, basierend auf dem Rang (Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere) und der Grundlage der tatsächlichen Dienstzeit und der damit verbundenen systematischen Schikanierung. Offiziere schikanieren die Unteroffiziere, die Unteroffiziere schikanieren die Rekruten, die Rekruten schikanieren sich untereinander, darüber amüsieren sich wiederum die Vorgesetzten.
Die Schikanierten wiederum werden als “Duch” (Дух = Geist) bezeichnet. Jeder “Ded” hat seinen “Duch” und darf nach Belieben über ihn verfügen. Die Dedowshtshina selbst kennt keine Grenzen der Gewaltanwendung: Sie reicht von Ausbeutung, psychischem und physischem Terror bis hin zu sexuellem Missbrauch und Mord.
EIN BLICK IN DIE GESCHICHTE
Die Dedowshtshina reicht zurück bis in die Anfänge der Sowjetunion. Der erste Fall von Schikanen in der damaligen Roten Armee wurde 1919 registriert. Drei altgediente Soldaten des 1. Regiments der 30. Schützendivision prügelten ihren Kameraden, den Soldaten J. I. Kuprijanow, 18 Jahre alt, zu Tode, weil er sich weigerte, Arbeiten für die älteren Soldaten zu verrichten. Der Regimentskommandeur lies die Schläger daraufhin standrechtlich erschießen. Danach gab es fast ein halbes Jahrhundert lang keine offiziellen Berichte über registrierte Fälle von Schikanen in den Streitkräften der Sowjetunion. Was nicht heißt, dass sie nicht stattgefunden haben.
Die Dedowshtshina in ihrer heutigen Form wurde tatsächlich erst Ende der 1960er Jahre zu einem akuten Problem in den sowjetischen Streitkräften. 1967 erfolgte eine Verkürzung der Wehrpflicht von drei auf zwei Jahre bei den Bodentruppen und von vier auf drei Jahre in den Seestreitkräften. Die Reduzierung fiel auch mit einem Mangel an Wehrpflichtigen zusammen, der durch die demographischen Folgen des Großen Vaterländischen Krieges (so wird der Zweite Weltkrieg in Russland genannt) verursacht wurde, aufgrund dessen die einst fünf Millionen Mann starke sowjetische Armee um bis zu einem Drittel verkleinert werden sollte.
Auf Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wurden nun auch Menschen mit krimineller Vergangenheit eingezogen, was zuvor völlig ausgeschlossen war. Tatsächlich sträubten sich die meisten Offiziere dagegen, ehemalige Sträflinge in ihre Einheiten integrieren zu müssen. Ideologisch wurde dies der Gesellschaft als Chance für ihre “gestolperten” Mitbürger erklärt, die nun durch den Militärdienst “resozialisiert” werden sollten.
Dabei trat das genaue Gegenteil ein: Ehemalige Insassen von Gefängnissen und Gefangenenlagern begannen, rituelle Demütigungen und Demütigungen in den Streitkräften einzuführen. Die Verkürzung der Dienstzeit galt nur für neue Wehrpflichtige, während diejenigen, die bereits gedient hatten, ihren Militärstrafdienst vollständig absaßen. Für eine gewisse Zeit gab es in ein und derselben militärischen Einheit sowohl diejenigen, die ihr drittes Dienstjahr vollendet hatten, als auch diejenigen, die ein Jahr weniger dienen mussten. Letzteres verärgerte diejenigen, die bereits zwei Jahre gedient hatten, und sie ließen ihre Wut oft an den neuen Rekruten aus.
Die “Blatnaja Muzika” (блатна́я му́зыка = Diebesmusik bzw. Jargon der Diebe) drang in die Militärsprache ein. Der Jargon der Diebe spiegelt in der Regel die interne Hierarchie der kriminellen Welt wider, indem er die beleidigendsten Wörter und Spitznamen denjenigen zuweist, die auf der untersten Sprosse der Hierarchie stehen, und die respektvollsten Wörter und Ausdrücke denen, die die meiste Macht und den größten Einfluss haben.
Moral und Disziplin in der Armee beruhen auf dem vollen Vertrauen zum Kommandeur, der wiederum die volle Verantwortung für das Leben seiner Untergebenen trägt. Ende der 1960er Jahre verfügten die sowjetischen Streitkräfte jedoch nicht mehr über die Zahl der erfahrenen Kommandeure, die nach dem Ende des Krieges die Mehrheit in Armee und Marine bildeten und die aus eigener Erfahrung wussten, dass eine gesunde moralische Situation in der ihnen anvertrauten Einheit unverzichtbar war.
So begannen einige Kommandeure in den Einheiten ab Ende der 1960er Jahre, die Arbeitskraft der jungen Soldaten in großem Umfang für persönliche materielle Zwecke einzusetzen, zum Beispiel zum Bau von Datschen. Solche “privatwirtschaftlichen” Aktivitäten in militärischen Einheiten, die in den Vorschriften nicht vorgesehen waren, führten zur Entstehung eines Systems, in dem höhere Soldaten die Rolle von “Aufsehern” über die arbeitenden Soldaten des ersten Dienstjahres spielten. Das erforderte den bedingungslosen Gehorsam der jungen Soldaten gegenüber allen Anweisungen der älteren Soldaten.
Um sie zu brechen und zu gehorsamen “Sklaven” zu machen, wurden die Wehrpflichtigen moralischem und physischem Druck und Gewalt ausgesetzt. Nach dieser Version entstand mit der Dedowshtshina also eine Möglichkeit, militärischer Einheiten abseits des militärischen Regelwerkes zu verwalten. Im Laufe der Zeit begannen Offiziere und Unteroffiziere, die Dedowshthsina als Verwaltungsmethode anzuwenden, da sie selbst keine Lust auf die Ausbildung junger Soldaten hatten und lieber deren Dienste als “Laufburschen” in Anspruch nahmen.
DEDOWSHTSHINA HEUTE
Laut Statistiken der russischen Militärstaatsanwaltschaft sterben in den russischen Streitkräften jährlich mehr als 400 Soldaten, ohne in Kampfhandlungen oder Unfälle verwickelt zu sein. Die meisten Todesfälle gehen auf Quälereien und Misshandlungen der Soldaten durch Vorgesetzte zurück. Von den “offiziellen” Selbstmorden in den russischen Streitkräften sind nur etwa ein Drittel tatsächlich echt. Viele “Suizide” in der Statistik sind eigentlich vertuschte Morde. Obwohl die russischen Streitkräfte als geschlossene Strukturen gelten, gerieten mehrere Fälle von Dedowshtshina in die Schlagzeilen.
ANDREJ SITSHOW
Der wohl bekannteste Fall von Dedowshtshina in den letzten Jahren. Als Rekrut wurde Sitshow am 1. Januar 2006 gegen 3:00 morgens von mehreren unter Alkoholeinfluss stehenden Unteroffizieren aus seinem Bett geholt und anschließend gezwungen mehr als drei Stunden lang, an einen Stuhl gefesselt, in einer Hockstellung und nur auf die Zehenspitzen gestützt zu verbleiben. Mehrfach wurde er auch geschlagen. Obwohl er bereits unmittelbar nach den Misshandlungen über starke Schmerzen klagte, wurde Sitshow erst am 4. Januar 2006 in einem lebensbedrohlichen Zustand in ein Krankenhaus in Tsheljabinsk gebracht.
Es wurde bei ihm eine Nekrose des linken Beines infolge mangelnder Durchblutung sowie eine beginnende Nekrose der Genitalien und des rechten Beines festgestellt. In den folgenden Tagen mussten Sitshow beide Beine sowie die Genitalien und das erste Glied des rechten Ringfingers amputiert werden. Erst nach etwa 14 Tagen gab er gegenüber seinen behandelnden Ärzten an, von Vorgesetzten geschlagen worden zu sein. Nachdem die Militärstaatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen hatte und russische Medien über den Fall berichtet hatten, wurde Sitshow in das Burdenko-Militärkrankenhaus nach Moskwa verlegt.
Gegen zwölf ehemalige Vorgesetzte wurde in der Folge Anklage erhoben. Am 26. September 2006 verurteilte das Gericht von Tsheljabinsk den Hauptangeklagten Alekandr Siwjakow zu vier Jahren Haft und erkannte ihm für drei Jahre den Dienstgrad als Unteroffizier ab. Zwei weitere Angeklagte, die Soldaten Kusmenko und Bilimowitsh, erhielten Freiheitsstrafen von anderthalb Jahren auf Bewährung.
ROMAN SUSLOW
Der 19-Jährige Rekrut stieg im Mai 2010 mit anderen Wehrpflichtigen aus der sibirischen Stadt Omsk in den Zug nach Bikin, einer Kleinstadt an der russsisch-chinesischen Grenze. Dort ist die 57. Gw. OMSBr (57. Garde-Motorschützenbrigade) stationiert. Nach zwei Tagen im Zug nach Bikin schickte Roman eine SMS an seine Freundin Oksana. “Die machen mich hier zum Krüppel oder töten mich. Bitte unternehmt was!”, stand in der Mitteilung. Oksana ging zur Polizei, die weigerte sich aber, die Anzeige aufzunehmen. Romans Kurznachricht war das letzte Lebenszeichen. Danach bekam Romans Mutter Tatjana Suslowa den Anruf, ihr Sohn habe sich auf der Zugtoilette erhängt.
Die Armee schwieg, bügelte Kontaktversuche ab und ließ die Eltern mit dem Tod ihres Sohnes allein. Zwei Wochen später wurde Romans Leiche nach Omsk ausgeflogen, in einem Zinksarg, mit dem Vermerk “Nicht öffnen!”. Suslowa öffnete den Sarg dennoch und gab die Leiche auf Anraten einer anderen Mutter, die ihren Sohn ebenfalls in Bikin verloren hatte, zur Obduktion frei. Der Gerichtsmediziner fand am Hals keine Spuren, die auf eine Strangulierung deuten könnten. Gesicht, Hände und Rücken waren jedoch mit blauen Flecken übersät, die im offiziellen Gutachten nicht erwähnt werden. Ebenso wenig wie eine lange Naht vom Kinn bis zu den Leisten. Alle lebenswichtigen Organe waren entnommen worden. Vermutlich wurden sie nach China verkauft.
VERBREITUNG DER DEDOWSHTSHINA
Die Dedowshtshina folgt ihren eigenen “Gesetzen”. Abhängig von der Art der Teilstreitkraft, der Kampfkraft der Einheit, ihrer Lage und den Bedingungen der Rekrutierung bzw. der sozialen Herkunft der Rekruten unterscheiden sich die “Gesetze” der Dedowshtshina stark. Im Kern handelt es sich bei den “Gesetzen” um übertriebene Interpretationen der Bestimmungen des militärischen Regelwerkes, im Sinne von: “Befehle werden nicht diskutiert, sondern ausgeführt.” Trotzdem gibt es eine Reihe von Regeln (von denen einige sogar von Offizieren durchgeführt werden), die den meisten Einheiten gemeinsam sind:
- Die Autorität des Älteren wird nicht bestritten.
- Über die Anordnung des Älteren wird nicht gesprochen.
- Der Ältere darf keine Gegenstände berühren, die zur Reinigung der Räumlichkeiten verwendet werden, das ist die Aufgabe des Geistes.
- Ein Sergeant (Unteroffizier) darf einem Älteren keine Aufgaben für die Hausarbeit übertragen, nur dem Geist.
- Dem Geist des ersten Dienstjahres ist der Besuch der Teeküche verboten.
- Dem Geist des ersten Dienstjahres ist es verboten, seine Uniform zu verbessern, nur der Ältere hat ein Recht darauf.
- Dem Geist des ersten Dienstjahres ist es verboten, bei jedem Wetter die Hände in den Taschen zu behalten (das kann im Winter zu Erfrierungen führen und gilt als “gute Lektion fürs Leben”).
- Wenn ein Geist im ersten Dienstjahr ein Paket von Verwandten erhält, muss er es zuerst zu den Älteren bringen, die daraus nehmen, was sie wollen (auch Geld!).
- Der “Zolotoj duch” (“golderner Geist”, ein seltener Fall) ist der einzige Soldat der Wehrpflicht im Zug der Älteren und lässt sich von ihnen nichts gefallen (schlägt auch zurück). Die Älteren sind dann verpflichtet, ihn in der Hierarchie über sich selbst zu stellen (was sie oft nicht akzeptieren, eher schlagen sie den neuen tot).
Am weitesten verbreitet ist die Dedowshtshina bei den russischen Bodenstreitkräften. Dabei gilt die Regel, je weiter der Stützpunkt von der Zivilisation entfernt ist und je ungebildeter die Rekruten sind, desto schlimmer werden die Schikanen. Was daran liegt, dass in manchen Gegenden Russlands die Streitkräfte der einzige Arbeitgeber sind und damit ein regelmäßiges Einkommen versprechen. Weniger verbreitet sind die Schikanen in den Luftstreitkräften, den Seestreitkräften und den strategischen Raketenstreitkräften, was am dafür nötigen höheren Bildungsgrad liegt.
In der Flotte gibt es außerdem die Godkowshtshina, was man mit Jubiläum übersetzen kann. Die Godkowshtshina kommt hauptsächlich auf Unterseebooten vor. Es handelt sich dabei um ein Aufnahmeritual, das sich über die Dauer der ganzen Wehrpflicht hinzieht. Man unterscheidet in Godki (mindestens zweieinhalb Jahre Dienstzeit) und Karasi (Karausche, eine Karpfenart mit feinem Schuppenkleid). Geht der Rekrut auf seine erste Fahrt, muss er zuerst eine volle Schale Meerwasser trinken (was ihn prompt zur Toilette treibt) und anschließend schwingenden Hammer küssen. Diese Prozedur erfordert eine gute Reaktion, denn sonst kann man seine Zähne verlieren (daher der Marine-Witz: “Melde dich für den U-Boot-Dienst, da ist der Zahnersatz inklusive”).
Die Godkowshtshina ist eher harmlos: Russische U-Boot-Kommandanten gehören zu den wenigen “Glücklichen”, die ihre Besatzung selbst auswählen dürfen. Sie versuchen also, möglichst kluge und disziplinierte Matrosen für den Dienst auf ihrem U-Boot auszuwählen. Denn das Risiko, einen Irren an Bord zu haben, ist auf einem Atom-U-Boot einfach zu groß. Zudem würde es sich auf längeren Patrouillenfahrten schlecht auf die Moral an Bord auswirken. Die Karasi erledigen alle niederen Arbeiten: Putzen, Wäsche waschen, Geschirrspülen usw. Sie werden jedoch nicht durch Schläge gefügig gemacht, sondern bei diesen niederen Arbeiten durch (teilweise) böse Streiche der “Godki” auf ihre Verantwortung hingewiesen (“Du hast hier was vergessen, das ist wichtig!”).
Dazu muss man wissen, dass russische U-Boot-Fahrer ein recht spezielles “Völkchen” sind: Der Humor an Bord ist in der Regel so schwarz wie eine Teerlunge und wer nach zweieinhalb Jahren Dienst nicht zum Zyniker geworden ist, gilt als “geisteskrank”. Haben die Karasi ihre Wehrpflicht abgeleistet und verpflichten sich weiter, gibt es ein Festessen und der Kommandant zahlt die Rechnung. Verpflichten sie sich nicht weiter, gibt es ein Festessen, aber sie zahlen selbst. Was nicht billig wird, denn dann langen die Godki richtig zu.
DIE FOLGEN DER DEDOWSHTSHINA
Während ihres ersten Jahres leben die Rekruten unter ständiger Androhung von Gewalt, als Strafe für das Nichterfüllen von willkürlichen Forderungen der dienstälteren Soldaten, was von Stiefelpolieren bis zum Beschaffen von Essen oder Alkohol reicht. Rekruten im ersten Jahr verbringen ein Gutteil ihrer Zeit damit, diese Forderungen zu erfüllen – ein Nichterfüllen hat routinemäßig Prügel oder andere körperliche Bestrafung zur Folge, die gewöhnlich dann ausgetragen werden, wenn die Offiziere die Kasernen verlassen haben.
Neben den üblichen oft sichtbaren Verletzungen wirkt sich das ständige Mobbing teilweise extrem auf die Psyche der jungen Soldaten und damit auf die Moral in der Truppe aus. Nachdem sie im ersten Dienstjahr schreckliche Misshandlungen erleiden, “rächen” sich die Soldaten im zweiten Dienstjahr, indem sie dieselben Gräueltaten der nächsten Generation von Rekruten antun.
Einige rasten auch aus und drehen den Spieß um: Im August 2015 tötete ein Soldat bei einem Amoklauf in einem Militärlager nahe der Stadt Kostroma rund 300 Kilometer nordöstlich von Moskwa drei Kameraden und erschoss sich dann selbst. Bei einer nächtlichen Übung im Amur-Gebiet tötete im Herbst 2017 ein Soldat ebenfalls drei Kameraden, darunter einen Offizier. Im Oktober 2019 erschoss ein russischer Soldat auf einem Stützpunkt acht seiner Kameraden, die ihn vorher misshandelt hatten. Als er deswegen zum Kommandeur der Einheit gehen wollte, wurde er abgewimmelt. Im November 2020 erschoss ein Soldat drei seiner Peiniger, floh daraufhin vom Stützpunkt und wurde später verhaftet. Er gab später an, sexuell missbraucht worden zu sein.
Die große Mehrheit der Offiziere ignoriert entweder Hinweise auf solche Misshandlungen, oder fördern sie sogar – in der Überzeugung, die Dedowshtshina sei ein wirksames Mittel, die Disziplin in ihren Reihen aufrecht zu erhalten. In vielen Einheiten sind die existierenden Präventionsmechanismen der russischen Armee auf leere Formalitäten reduziert.
Aufgrund von Horrorgeschichten über die Dedowshtshina versuchen jedes Jahr zehntausende russische Eltern, den Militärdienst von ihren Söhnen abzuwenden. Da reichere und gebildetere Familien dabei am meisten Erfolg haben, beziehen die Streitkräfte ihre Rekruten mehr und mehr aus ärmeren Bevölkerungsschichten.
Auch auf das Zivilleben hat die Dedowshtshina Auswirkungen: Viele junge Rekruten leiden schon bevor sie eingezogen werden unter Unterernährung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit oder anderen sozial bedingten Krankheiten. Während ihres Militärdienstes sind die Rekruten physischen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt und leiden unter schlechter Ernährung und medizinischer Versorgung, was zu niedriger Moral führt. Manche Soldaten kehren mit psychischen Schäden, völlig verroht und/oder gewaltbereit aus dem Militärdienst zurück. Sie schlagen ihre Mütter, ihre Freundinnen, Frauen oder Kinder.
PRÄVENTION
Die Tatsache, dass die Dedowshtshina in einigen Einheiten Überhand nimmt, in anderen jedoch beinahe fehlt, zeigt, dass Misshandlungen verhindert werden können, wenn die Offiziere gewillt sind, sie zu beenden. Dabei zeichnet sich ein Bild ab: Die Offiziere, die Misshandlungen unterbinden, kommen aus Familien mit einer langen Militärtradition. Einige Rekruten berichteten, dass Offiziere in Einheiten ohne Dedowshtshina der Truppe unmissverständlich klar machten, dass sie keine Misshandlungen dulden würden, eine gewisse Nähe zu der Truppe unterhielten, die existierenden Präventionsmechanismen genau umsetzten und bei Hinweisen auf Misshandlungen entschieden handelten. Leider sind diese Offiziere in Putins System zur Minderheit geworden.
Um 2009/2010 herum wollte Dmitri Medwedew eine Sondereinheit der Militärpolizei mit einer speziellen Notrufnummer einführen, welche die Dedowshtshina in den Garnisonen unterbinden sollte. In jeder Garnison sollte z. B. eine Nachtwache dieser Einheit stationiert werden, die sofort einschreiten konnte, sobald ein Rekrut um Hilfe bat. Die Rekruten wiederum sollten Misshandlungen direkt über eine Notrufnummer an das Minoboroni melden. Dort sollte sich ein Team mit solchen Fällen direkt befassen.
Das “System Putin” hat die meisten dieser Reformen entweder im Hintergrund sabotiert, oder sie wurden nach Medwedews Rücktritt wieder aufgehoben. Die Aufstellung der Sondereinheit der Militärpolizei z. B. wurde nach Putins Wiederwahl 2012 direkt blockiert, obwohl die ersten Posten dafür schon eingerichtet waren.
Obwohl die Dedowshtshina und ihre Auswirkungen in der russischen Öffentlichkeit seit Jahren wohlbekannt sind, lässt die Regierung geeignete Schritte zu ihrer Bekämpfung bislang vermissen. Statt öffentlich klar gegen die Misshandlungen Stellung zu beziehen, haben Regierungsvertreter das Thema in Reformgesprächen am Militärwesen weitestgehend ignoriert.